Ein olympischer Athlet trainiert jeden Tag stundenlang. Und das Woche für Woche, Monat für Monat, um am Ende 10 Sekunden zu sprinten. Er würde sehr wahrscheinlich nicht auf die Idee kommen, seinem Coach zu sagen: „Weißt du, ich sprinte ja nur 10 Sekunden und da muss ich ja dann auch nur für 10 Sekunden trainieren!“
Viele Schauspieler, die zu mir kommen, sind in Bezug auf ihr Sprechen aber genau davon überzeugt: sie meinen, dass sie vor der Kamera nicht mehr in die Vollen gehen müssen. Lautstarkes Spiel verbinden sie mit dem Theater. Sie meinen, für den Film sollten sie sich zurücknehmen. Sie fangen an, reduziert zu sprechen. Vor lauter Zurückhaltung spannen sie die Bauchdecke an und halten den Atem fest. Sie bauen damit gewaltige körperliche und psychische Blockaden auf. Und vor lauter Angst, nicht den richtigen Ton zu treffen oder den Text nicht genau zu reproduzieren, sind sie im Grunde nur noch ein Schatten von sich selbst. Das muss und darf nicht sein!
Selbstverständlich müssen wir im Spiel vor der Kamera keinen Saal und schon gar keine Freilichtbühne beschallen. Unsere Handlungen – und dazu zähle ich ganz selbstverständlich auch das Sprechen und den stimmlichen Ausdruck – dürfen dank der Technik sehr intim sein, fein und transparent. Ein großer Unterschied zur Bühne.
Wenn wir uns in Zurückhaltung üben, sollte das aber nicht unsere Ausdrucksmöglichkeit generell beschränken. Und ein echtes Disaster entsteht dann, wenn wir vor lauter Zurückhaltung die Bauchdecke anspannen, körperliche Blockaden aufbauen und die Angst, nicht den richtigen Ton zu treffen, unser ganzes Spiel beeinflusst.
Frei im Ausdruck können wir nur sein, wenn Körper, Seele und Geist frei sind von überflüssigen Blockaden und der Atem frei fließt. Ob dies der zarte Ausdruck eines geflüsterten Liebesgeständnisses ist, der angstvolle Schrei eines Menschen, der von einem Tsunami erfasst wird, die wütende Kampfrede eines zum Tode Verurteilten oder die letzten Worte am Totenbett eines geliebten Menschen. Unser Instrument muss für jede Gelegenheit des Ausdrucks jederzeit flexibel und geschmeidig zur Verfügung stehen – lange Wartepausen, schlechtes Wetter bei Außendrehs, spontane Änderungen der Regie, Stress beim Drehen aus unterschiedlichen Gründen etc. inklusive.
Denn auch wenn die Kamera dein Gesicht im Closeup zeigt, heißt das noch lange nicht, dass du keinen Körper mehr hast. Gehirn und Körper korrespondieren die ganze Zeit und wenn deine physische Präsenz sich nicht mehr im Text spiegelt, deine Gedanken nicht mehr klar sind, beeinflusst dies dein gesamtes Spiel.
Wie also kannst du dein Spiel entscheidend verbessern?
Körper, Atem, Geist und Seele sollen frei von Blockaden und in einer guten Spannung sein. Das erreichen wir durch beständiges Training – eben um danach nicht „trainiert“ zu klingen, sondern frei – für alles, was das Spiel und eine glaubwürdige Kommunikation vor der Kamera von uns verlangen.
Meine klare Empfehlung an jeden Schauspieler, jede Schauspielerin lautet deshalb: geht in die Vollen! Übt euch in Kraft und Zartheit und in den ganzen Zwischentönen! Findet euer eigenes Warmup für Körper, Atem, Stimme, Seele und Geist. Wer Unterstützung braucht, kann sie sich bei zertifzierten Coaches holen, ein Seminar zur Auffrischung buchen, Gleichgesinnte finden oder mit meiner neuen Warmup CD arbeiten.
Meine Erfahrung ist, dass viele SchauspielerInnen sich vor so einem Trainingsprogramm scheuen. Und ich glaube, dass häufig eine grosse, tiefsitzende Angst dafür die Ursache ist: die Angst vor der eigenen vollen Stimmkraft, die Angst vor der eigenen Größe.
Und wer sich unbedingt in Zurückhaltung üben will: weniger Lästern und Jammern wären ein segensreicher Anfang.
Foto: Fuu J / Unsplash