Julius Heys Klassiker der Sprecherziehung, „Der kleine Hey“, prägte jahrzehntelang das Bild einer guten Sprechausbildung. Und die Erinnerung an lustlos abgeleierte verstaubte Verse, manieristisches Schönsprechen mit weit geöffnetem Kiefer und sichtbarer Sprechanstrengung, gepaart mit theatralischem Gestus und rollenden rrrrrr scheint tief zu sitzen. Viele haben den Sprechunterricht in der Schauspielausbildung lustlos abgehakt.

Auch die Neuauflage des kleines Heys 2003 samt Übungs-DVD bringt da keinen Gewinn. Schwarz gekleidete Student*innen der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellenden Kunst Stuttgart sagen verspannt die alten Verse auf – das ist unsinnlich und macht keine Lust, sich näher mit dem Sprechen zu beschäftigen. Kein Wunder also, dass (Film)schauspieler*innen sehr empfindlich auf das Wort „Artikulation“ reagieren.

Vielen ist Sprecherziehung, insbesondere der Bereich „Aussprache“ ein Dorn im Auge, aber auch Regisseure scheinen diesbezüglich auf dem Stand von 1950 stehen geblieben. Sie empfehlen gern „natürlich“, also bloß nicht „zu deutlich“ zu sprechen.

Aber was heißt Artikulation überhaupt? Und was zeichnet Sprecherziehung im 21. Jahrhundert aus?
Artikulation bedeutet „Gliedern“ – das meint, Gedanken verständlich, also „gegliedert“ auszusprechen.

Als Zuschauer oder Zuhörerin erwarte ich von Schauspielern vor allem eins: dass sie glaubwürdig handeln können. Sprechen ist Handeln. Schauspieler, die nichts zu sagen haben, sind uninteressant. Schauspieler, die ständig nicht zu verstehen sind, ebenfalls. Artikulation ist ein wichtiges Mittel, etwas mitzuteilen. Wer das nicht glaubt, sollte versuchen, mal einen Tag lang stumm zu sein.

Hier ein kleines Zitat von Jan Weiler zu diesem Thema:
„Viele derjenigen, die im Theater Texte vor sich hin dekonstruieren, sind nicht einmal an nüchternenen Tagen dazu in der Lage, auch nur einen einzigen Satz verständlich bis in die letzte Sitzreihe zu transportieren. Und das gilt nicht nur für das Theater, sondern zunehmend auch für den deutschen Film. Neulich sah ich einen, in dem angeblich supertolle junge deutsche Schauspieler ambitioniert spielten, den Titel habe ich schon wieder vergessen. Ich musste leider umschalten, weil ich kein einziges Wort verstanden habe. Für manche Schauspieler scheint die deutsche Sprache ausschließlich aus Konsonanten zu bestehen. Es ist furchtbar. Was, bitte schön, ist gegen einen klitzekleinen Vokal zu sagen? Was habt ihr eigentlich dagegen, beim Sprechen euer Maul zu öffnen? Kann es sein, dass ihr ganz einfach nichts zu sagen habt? Hä?“
— Jan Weiler, In meinem kleinen Land, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2008, S. 251

In der Kommunikation liegt die Kunst.

In der Vermittlung, also Kommunikation unserer Gedanken und Gefühle liegt also die Kunst und für diese Vermittlung brauchen wir einen bewegten Körper, Mimik und Gestik, genau so, wie einen freien Atem, eine resonanzreiche Stimme, die unsere Gefühle transportiert und Sprechorgane, die unsere Gedanken so ausformulieren, dass andere Menschen sie verstehen.

Selbst wenn diese Bewegung minimal ist, weil die Rolle es so verlangt. Eine verletzte, kaputte Figur – z. B. eine junge drogenabhängige Frau, die eben zusammengebrochen ist, wird selbstverständlich nicht „sauber“ artikulieren. Sie wird es aus unterschiedlichen Gründen nicht tun – weil ihr Körper schwach ist und unterspannt, weil ihr Geist nicht klar ist, weil sie unendlich müde ist, weil sie einen trockenen Mund hat, weil sie flach atmet, weil ihr Sprechvorbild die prollige Mutter war, weil sie schon seit Tagen mit niemandem gesprochen hat, weil sie gar nicht kommunizieren will, weil ihr eh alles egal ist…

Sie sollte es nicht tun, weil die Regieanweisung hieß: „ sprich nicht so deutlich“. Wie steht es aber, wenn die selbe Schauspielerin eine andere Figur spielt: eine hellwache, karrieregeile, blitzgescheite Anwältin beispielsweise – wäre es glaubwürdig, ihr Sprechen zu vernuscheln?

Klare Gedanken ermöglichen eine klare Artikulation und wenn ein Schauspieler weiß, wer er ist, warum, was und wann er zu wem spricht, artikuliert er oder sie in der Regel „gut“: das heißt nicht mehr und nicht weniger als: verständlich, der Situation angemessen und glaubwürdig.

Mal geflüstert, mal leise und sinnlich, mal sachlich kühl, mal schneidend, klar, gebrüllt….und eben auch so erschöpft oder kaputt, so dass wir das Gesprochene fast nicht mehr verstehen.

Und mein „S“, was ist mit meinem unscharfen „S“?

Die Ansprüche für den störungsanfälligsten und feinstabgestimmten aller Konsonaten sind nicht mehr so, wie sie einmal waren. Das unscharfe „s“ ist salonfähig geworden. Gezischelt wird auf Deutschlands großen Bühnen und anspruchsvollen Sendern genauso, wie in Film und Fernsehen. Das sind jedenfalls meine Beobachtungen.

Wer sich unsicher fühlt und einen S-Fehler- in der Fachsprache „Sigmatismus“ genannt – vermutet, sollte ihn von einem Phoniater überprüfen lassen und logopädisch oder sprecherzieherisch korrigieren. Das kostet Zeit und Einsatz, lohnt sich aber. Ein halbes bis ein Jahr Zeit, Geduld und viel Üben sollte dafür investiert werden. Nur Hochmotivierte haben Aussicht auf Erfolg.

Außerdem sollten SchauspielerInnen regelmäßig ihr Hörvermögen testen lassen. Ein Hörverlust für hohe Frequenzen im Alter oder durch Lärm verschlechtert die Eigenwahrnehmung – und das ist häufig der Beginn von Nuscheln und verwaschenen Zischlauten.

Effizientes Sprechtraining beinhaltet die Arbeit an Atem, äußerer und innerer Haltung (ja richtig: schauspielerischer Intention!), klaren Gedanken, Stimme und Resonanz, Präsenz und selbstverständlich auch die Arbeit an unseren Sprechwerkzeugen: Lippen, Kiefer, Zunge, Gaumensegel. Die, wenn sie zu schlaff oder verspannt sind, eine locker zusammenspielende Lautgebung verhindern. Am Ende steht dem wortgewandten Geist sein natürliches Instrument zur Verfügung, bereit und willens, durch ihn geformt, aber nicht behindert zu werden. Darum also geht es: das Instrument gestimmt zu halten, damit es allen Anforderungen genügen kann.
Diese Anforderungen sind für die Bühne natürlich anders sind als fürs Fimsprechen oder Mikrofonsprechen.

Methoden, die wunderbar eingesetzt werden können, sind das „Gestische Sprechen“ (Klawitter, Krawutschke), die Linklatermethode (Kristin Linklater) und „Joy of Phonetics“ (Collaiani). Aderholds Klassiker „Sprecherzieherisches Übungsbuch“ enthält nützliches Übungsmaterial.Außerdem sind zum Thema Aussprachetraining und für alle, die schon immer mal wissen wollten, welche Ausspracheregeln es derzeit gibt, das Buch „Phonothek intensiv“ aus dem Langenscheidt-Verlag und die gleichnamige Übungs-CD zu empfehlen. Und für alle, die sich in der Phonetischen Transkription üben möchten, noch folgender Tipp: „Phonetische Transkription des Deutschen“ (Narr Studienbücher) mit integrierter Übungs-CD. Es kann richtig Spaß machen, sich mit diesen Lautzeichen zu beschäftigen und macht uns bewusst und sensibel dafür, dass wir eben keine Buchstaben sprechen, sondern Laute.

Lassen wir den „Kleinen Hey“ also bei den kleinen Fischen. Und widmen uns lieber dem ganzen Meer der Sprache mit seinen unendlichen Möglichkeiten, Weiten, Wellen, Farben, Flauten und Stürmen. Tiefen und Untiefen.

Sprecherziehung im 21. Jahrhundert versteht Sprechen als Ausdruck der gesamten Person und genau so sollte auch guter Sprechunterricht aufgebaut sein. Im Zentrum steht der sprechende Mensch. Ziel ist es, jederzeit ein geschmeidig gestimmtes Instrument zur Verfügung zu haben, auf dem wir alle Skalen der menschlichen Ausdrucksweisen spielen können und das Sprechen verkörpern – ohne Anstrengung – echt, glaubwürdig und von Herzen.

Foto: Kristina Paparo / Unsplash

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