Rotlichtmilieu, Hinterhof, es ist feucht und kalt. Die junge Prostituierte, Cindy, wartet auf Checker, ihren Zuhälter. Plötzlich wird sie von hinten angegriffen, zu Boden geworfen und brutal vergewaltigt. Sie schreit vor Schmerzen und Panik und versucht vergeblich, zu entkommen. Zoom auf ihr Gesicht. Plötzlich ein Knall und sie sackt lautlos in sich zusammen…
Die Schauspielerin, die in dieser Szene Cindy spielt – ich nenne Sie mal Lea –, hatte es in den Proben nicht leicht. Der Regisseur war ganz und gar nicht mit ihr zufrieden. Der Schrei war nicht überzeugend und auch nicht laut genug. Lea hatte sich mächtig angestrengt und ist jetzt frustriert. Heiser, unsicher, verängstigt und mit null Bock auf den Dreh kommt sie zu mir und bittet um Unterstützung.
Als erstes klären wir die Voraussetzungen für einen gelungenen, glaubwürdigen und markerschütternden Schrei: zuerst braucht es einen echten Impuls. Und den hundertprozentigen Zuschlag, diesen auch vermitteln zu wollen. Dazu braucht es einen durchlässigen Körper mit einem freien Stimmkanal – und ein frei bewegliches Zwerchfell. Außerdem brauchen wir Mut, uns hässlich zu zeigen, uns zuzumuten – sowohl uns selbst, als auch anderen. Und den Mut, sich auszuprobieren. Kristin Linklater, eine führende Autorität in Sachen Stimme, drückt das so aus: Schauspieler sollen den Mut haben, zu sagen: „Fuck the result!” Gar nicht so einfach, wenn Erwartungen der Regie oder eigene Ansprüche uns dabei im Wege stehen.
Ich frage Lea nach ihrem Impuls. Ja, es gibt ihn – sie kann sich ganz auf die Kraft ihrer Imaginationsfähigkeit verlassen. Trotzdem kommt davon nicht genug beim Zuschauer an. Nach weiterer intensiver Arbeit stellt sich heraus: sie kann sich weder dem Gefühl von Hilflosigkeit, Schmerz und Demütigung ganz öffnen, noch diese Gefühle mitteilen. Zu viel Angst hat sie vor vollkommenem Kontrollverlust. Sie findet sich und ihre Stimme hässlich, wenn sie schreit.
Außerdem muss sie in der Szene eine viel zu enge Netzstrumpfhose tragen, die ihre Atmung einschränkt.
Im geschützten Raum ermuntere ich Lea, den Impuls neu zu erschaffen und etwas auszuprobieren. Was geschieht wirklich, wenn sie sich ihm vollkommen überlässt? Welche Befürchtungen gibt es dabei? Was kann passieren? Gefühle kommen, Gefühle gehen. Gefühle sind flüchtige Wesen. Seien sie auch noch so groß, beängstigend und hässlich. Als Schauspieler sollten sie uns alle herzlich willkommen sein – wir brauchen einen unverstellten Zugang zum ganzen Repertoire des menschlichen Ausdrucks, nicht nur zu einem Ausschnitt unserer Komfortzone.
Lea lässt sich ganz auf unsere Arbeit ein und auf einmal ist er da, der Schrei. Glaubwürdig, markerschütternd und ohne jede Anstrengung. Lea weint, weil sie ihre Energie spüren konnte und es gar nicht so einfach war, ihre Kraft auszuhalten. Schnell findet sie aber zu ihrer Mitte zurück. Nach einer kleinen Pause mit Dehnungen, Entspannung und tiefen Seufzern der Erleichterung wiederholen wir die Szene. Ich ersetze den Spielpartner und Lea übt den Impuls für ihren Schrei. So wird er abrufbar und wiederholbar – damit fühlt sich Lea gut und sicher.
Wir besprechen, wie sie sich am Drehtag vorbereiten kann. Mit Übungen zur Lockerung und Entspannung, Aufrichtung und Durchlässigkeit, Klarheit der Gedanken und starkem „Futter“ für ihren Impuls. Das Problem mit der Strumpfhose lässt sich leicht lösen: sie kauft eine größere, in der sie sich frei bewegen kann.
Nach dem Dreh ruft sie mich an: ihr Spielpartner hat sich nach der Szene bei ihr entschuldigt! Er dachte, er habe ihr wehgetan, weil sie so laut schrie und war besorgt um sie. Leas Schrei war überzeugend. Und ihre Stimme blieb tragfähig.
Stimme ist Gefühl. Stimme liebt Wahrheit. Und nur ein gestimmtes Instrument ist auf Extrem-Einsätze gut vorbereitet.
Foto: lo lindo / Unsplash